Zwischen Schweinestall und Jugendraum

Meine Haare wehen im Fahrtwind, mit der einen Hand halte ich mich an der Eisenstange fest, mit der anderen greife ich das Halsband unsres Hundes aus Sorge, dass er aufspringt. Was er aber nicht tut, weil er die Fahrt genauso genießt wie wir.
Text: Julia Schattauer

Ich erinnere mich, wie ich zusammen mit meinem großen Bruder Marco und unserem Mischlingshund Moritz auf dem Autoanhänger saß. Wir fuhren mit meinem Vater über die „Vockwiss“ zum Spielplatz, um Holz abzuladen. Zusammen mit meinem Onkel Goga arbeitete er am Rutschenturm. Wenn Papa Materialien holen musste, dann durften wir von uns oben im Neubaugebiet bis zum Spielplatz auf dem Hänger mitfahren, weil er genau wusste, wie gerne wir uns den Wind um die Nase wehen lassen. Zu unserer Freude passierte das öfter, denn irgendwo wurde immer gebaut: am Spielplatz, am Dorfgemeinschaftshaus, in der Ohlbach – es ging viel voran und ich hatte nie den Eindruck, dass Kalkofen ein verschlafenes Nest ist, in dem nichts passiert.

Auch ich war schon als kleines Kind immer mit eingebunden ins Dorfleben. In der Weihnachtszeit wurde bei Frau Krebs das Krippenspiel geprobt, bei dem ich mit fünf Jahren erstmals die Maria, später auch König, Joseph oder ein Komet war. An den sonstigen Wochenenden wurde bei Uschi für Auftritte an Dorffesten und in der Kirche Flöte oder Gitarre geübt. Manchmal haben wir danach Stunden bei ihr mit Brettspielen und Gummibärchen verbracht.

Im Sommer kam täglich der Eismann, auf den ich schon sehnsüchtig wartete. Sobald der blaue Bus die Bergstraße hochfuhr, rannte ich los, um mir ein „Bällche“ Himmelblau- und Moritz, unserem Hund, ein Vanilleeis zu kaufen. Sonst war der Kaugummiautomat unsere einzige Möglichkeit ein paar Pfennige an den Mann zu bringen. Wobei man da immer wieder aufpassen musste, ob Steffen uns nicht wieder einen Streich gespielt und in den Automaten gespuckt hatte.

Die „Buwe“ waren damals hauptsächlich im Wald, vor allem am Steinbruch, um Lager zu bauen und wollten uns „Määd“ nicht unbedingt dabei haben. Wir waren stattdessen die meiste Zeit im Stall. In jeder freien Minute bin ich mit Reitstiefeln die Hochstraße entlang „zus Walters“. Oft war auch meine Cousine Carolina dabei und zusammen haben wir Fohlen, Rinder, Ferkel, Kätzchen und vor allem viele Welpen aufwachsen gesehen.

Auf den Winter haben wir uns immer besonders gefreut. Einmal hatte Marco zu Weihnachten einen neuen Schlitten bekommen. Einen aus Plastik, der besonders windschnittig aussah und mit den normalen Holzschlitten nicht viel gemein hatte. An der „Lai“, die besonders steil war, wurde der neue Schlitten ausprobiert. Ich saß hinten drauf und in einem Affenzahn ging es den Berg hinab über den Asphalt, dass die Funken flogen und rein in den gegenüberliegenden Zaun. Mir war das viel zu schnell und danach habe ich mich lieber an meinen alten Holzschlitten gehalten.

Als ich zwölf war, bekamen wir Niklas. Ich weiß noch, wie sehr ich geschockt war, als Mama und Papa uns die „frohe“ Nachricht überbrachten, aber dann freute ich mich so sehr auf das kleine Geschwisterchen, dass ich es auf dem Schulweg jeder einzelnen Person erzählen musste. Im Für-mich-behalten war ich noch nie besonders gut. Niklas war für Marco und mich irgendwie wie ein Spielzeug, immerhin war der Altersabstand zwölf und 14 Jahre. Wir brachten im blöde Sprüche bei, die er begeistert nachplapperte und spornten ihn bei jedem Unsinn an, den er so anstellte.

So wie früher mit dem Schlitten oder dem Fahrrad ging es später mit den Mofas weiter. Marco, Christoph und Steffen nutzten jede freie Minute, um mit ihren Mofas durch die Gegend zu heizen.
Langsam fühlten sich die Jungs für die Spiele im Wald und wir für die täglichen Stallbesuche zu alt und wir unternahmen wieder mehr zusammen. Manchmal durfte ich mit Steffens quietschgelben Mofa selbst den Talweg hinunterfahren, doch wie immer war ich auch da nicht sonderlich mutig und überließ das Fahren lieber den anderen.

Seit Irmi die Wirtschaft in der Ohlbach am Sportplatz betrieb, waren wir fast jedes Wochenenden dort. Denn neben der Ohlbach gab es für uns Jugendliche nicht viele Orte, wo wir uns treffen konnten und in Ruhe quatschen konnten. Im Keller des Dorfgemeinschaftshauses, wo früher an der Kerb die Bar war, richteten wir uns unseren Jugendraum, das Räumsche, ein. Ein paar Sofas, das alte Tarnnetz aus der Bar an die Decke, einen alten Couchtisch und das Wichtigste: eine Musikanlage, fertig war unsere Wohnzimmer, in dem wir gefühlt Ewigkeiten verbrachten. Dort hörten wir laut Musik, rauchten unsere ersten Zigaretten und tranken Bier aus der Dose. Manchmal schlichen wir uns heimlich nachts aus der Garage und trafen uns im Räumsche, wobei es meist nicht lang dauerte bis jemand dahinter kam und uns wieder nach Hause zitierte.

Irgendwann wurde uns unser Räumche zu klein. Wir wollten andere Leute treffen, auf die Musik gehen und so verbrachten wir die Wochenenden entweder in Alsenz im Bodega oder im Funhouse, manchmal auch in Gundersweiler im Kult und im Sommer fuhren wir auf die Kerwe im Umkreis. Höhepunkt war dabei natürlich immer unsere eigenen Kerb. Darauf fieberten wir schon das ganze Jahr hin und auch seit ich nicht mehr in Kalkofen wohne.

Langsam trennten sich unsere Wege. Manche von uns fanden ihre eine Ausbildungsstelle in der Nähe, hatten Freund oder Freundin aus der Gegend und andere verschlug es in die Ferne. Ich zog zuerst nach München und hatte dort so viel Heimweh, dass ich in den ersten zwei Jahren jedes zweite Wochenende und alle Semesterferien in der Heimat verbrachte. Mittlerweile hat es mich noch ein Stückchen weiter nach Berlin verschlagen und trotzdem komme ich so oft es geht, aber mindestens alle zwei, drei Monate nach Hause.

Obwohl ich nie das Gefühl hatte, dass ich raus muss, nie dachte, dass ich hier den Lagerkoller kriege, habe ich mich entschieden wegzuziehen. Mich trieb es nicht weg aus der Heimat, vielmehr lockte mich die Neugier, denn eine Neidschär, die war ich schon immer. Und auch wenn ich bis heute nicht in die Heimat zurückgekehrt bin und auch noch nicht weiß, ob ich es wieder tue, ist und bleibt Kalkofen meine Heimat. Der Ort, wo meine Familie ist, wo ich ganz einfach zu Hause bin. Heimat ist für mich da, wo ich mich nicht nur oberflächlich zurecht finde, sondern jeden Weg und jedes Haus kenne. Das ist dort, wo Orte mit Erinnerungen verknüpft sind, wo ich Geschichten von Orten und Familien, Hirtenjungen und Siechenhäusern und Galgen kenne, die Papa mir erzählt hat.

Klar, wer in Berlin groß wird oder München oder selbst in Bad Kreuznach, der hat ganz andere Möglichkeiten was Kino, Kneipen und Mobilität angeht. Aber ob die Kinder dort eine interessantere oder schönere Kindheit haben als im kleinen Kalkofen? Ich denke nicht.
Klar, im Dorf, da fällt einem schon einmal die Decke auf den Kopf fällt, man ärgert sich darüber, dass getratscht wird oder man langweilt sich, doch was hier zählt ist die Gemeinsamkeit und der Zusammenhalt. Das habe ich als Kind schon so empfunden. Vielleicht hatte ich Glück mit so vielen fast Gleichaltrigen aufzuwachsen und mit meiner großen Familie, aber selbst heute, nach den vielen Jahren, die ich nicht mehr in Kalkofen wohne, kann ich heimkommen, in die Wirtschaft gehen und weiß: Hier gehöre ich hin. Und das ist es, was mich immer wieder heimkommen lässt.

Dieser Text ist auch in der Dorfchronik von Kalkofen erschienen. Wer Interesse an der Chronik hat, schreibt einfach einen Kommentar.

 

Was denkst du? Wie hat dich deine Kindheit beeinflusst? Was wäre anders gewesen, wenn du in der Stadt oder auf dem Land aufgewachsen wärst? 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert